Leseprobe "Im letzten Haus"

 

 

 

Aus Angst vor dem Heim verstecken zwei Kinder die Leiche ihrer Großmutter und versuchen allein zurechtzukommen.

Die Kühltruhe war 1,20 Meter lang und 60 cm breit. Wenn man die Beine der alten Frau anwinkelte, passte sie hinein. Das kleine Mädchen hielt die Tote an den Füßen, wie es ihr Bruder gesagt hatte. Er keuchte vor Anstrengung. Sie starrte durch den Tränenschleier auf Omis Pantoffeln.

Altmo­dische Dinger mit Troddeln und ausgefransten Stickereien. So genau hatte sie die noch nie angesehen und vertiefte sich in diesen Anblick. Nur nicht in ihr Gesicht sehen. Alles, nur das nicht. Ein Pantoffel rutschte von ihrem zierlichen Fuß. Franzi sah, dass Omis Zehennägel schmutzig und viel zu lang waren. Es schnitt ihr ins Herz.

„Wir sollten ihr doch die Nägel schneiden!“ schrie sie voller Entsetzen. „Wir haben es vergessen…“

Ihre Stimme hallte von den kahlen Wänden wider.

„Reiß dich zusammen und hilf mir!“

Mario presste die Lippen zu einem Strich zusammen und hievte die Leiche über den Rand der Truhe. Das dumpfe Geräusch des Aufpralls ließ Franzi zusammenfahren. Sie hob den Pantoffel auf und drückte ihn an sich.

„Wie konnten wir das vergessen?“ schluchzte sie und zitterte am ganzen Körper.

Das Gesicht ihres Bruders leuchtete blass im dunklen Keller, die Sommersprossen sahen aus wie aufgemalte Punkte.

Früher war die Kühltruhe immer mit steinhart ge­frore­nem Wild und Fasan gefüllt gewesen. Opi hatte viel gejagt, aber heute war die Truhe fast leer. Ein Schauer lief durch Franzis Körper. Jetzt hatten sie Omi darin tiefgekühlt. Aber vielleicht träumte sie alles nur und würde gleich aufwachen. Sanft befreite Mario den Hausschuh aus ihrem Griff, seine Augen waren riesig und fast schwarz. Nicht braun und voller Wärme wie sonst.

„Es ist so schrecklich kalt da drin. Können wir sie nicht im Garten begraben?“

„Der Boden ist gefroren. Ich habe es dir doch erklärt.“

Franzi nickte. Es war schwer, tapfer zu sein, wenn Omi wie eine Puppe aussah, mit offenen Augen und kalter Haut.

„Können wir sie im Sommer in den Garten bringen?“

Mario beugte sich zu ihr hinunter und drückte sie, ein wenig zu fest.

„Natürlich“, antwortete er. In einem Winkel ihres Herzens wusste sie, dass sie es nie fertigbringen würden, Omi noch einmal anzurühren. Aber Franzi klammerte sich an diese Vorstellung und an ihn. Schließlich schob Mario den Pantoffel unter das Regal und nahm seine Schwester an die Hand. Sie blickte zu ihm hoch, stumme Tränen liefen über sein Gesicht. Verschwitzte dunkle Locken klebten auf seiner Stirn.

Hand in Hand gingen sie ins obere Stockwerk in ihr Schlafzimmer. In dem Reihenhaus hatten vor langer Zeit Omi und Opi gelebt, bis sie nach Köln gezogen waren. Später haben Franzi und Mario mit ihren Eltern hier gewohnt. Es war alt, aber hell und modern eingerichtet. Wenige Möbel­s­tücke erinnerten an frühere Generationen, so wie die Standuhr und der Küchentisch mit den tiefen Spalten, in denen Franzi so gern ihre Gabel festklemmte. Für sie war es ein richtiges Familienhaus. Lebendig, warm und sicher.

Bis heute.

Im Schlafzimmer standen sie Hand in Hand vor Omis Bett. Zwei weiße Haare lagen einsam auf dem Kopfkissen. Eine ihrer bunten, indischen Hosen hing über dem Stuhl. Der kleine Schreibtisch war übersät mit Büchern und Notiz­­zetteln.

Nach dem Tod von Mama und Papa vor zwei Jahren war sie extra aus Köln zu ihnen gezogen. Sie wollte immer für sie und Mario da sein. Sie hatte es versprochen.

Franzi fühlte eine seltsame Kälte, die sich in ihr ausbreitete. Auf dem Nachttisch lagen Omis Brille und ein Roman. Es war faszinierend, dass sie Bücher auf Englisch lesen konnte. Franzi nahm das Buch in die Hand und schnupperte daran. Alles im Raum hatte diesen Duft, eine Mischung aus alten Büchern, Pfeffer­minztee und Räucherstäbchen, ein Überbleibsel aus Omis Zeit als Reiseleiterin in Indien. Egal ob Franzi Ärger wegen vergessener Hausaufgaben hatte oder ob Jan aus ihrer Klasse blöd zu ihr gewesen war. Wenn Omi sie an sich gedrückt und Franzi ihren Duft eingeatmet hatte, ging es ihr gleich viel besser.

Ihr Bruder ließ sich auf das Bett sinken und zog sie mit sich. Franzi lehnte sich an ihn. Eine Weile starrten sie stumm in das düstere Nichts, das sich vor ihnen auftat. Die Standuhr im Wohnzimmer hatte bereits zweimal ge­schlagen und es wurde dunkel. Angst griff nach Franzi. Ihr Bruder war so blass und sagte nichts.

„Komm, wir machen Pfefferminztee“, sagte sie und kam sich auf einmal sehr erwachsen vor. Der Tee würde bestimmt gegen ihre innere Kälte helfen. Mario folgte seiner Schwester in die Küche.

Es dauerte lange, bis sie den heißen Tee trinken konnten. Sie wärmten ihre Hände an den Bechern und lauschten auf die Geräusche von nebenan. Der Rottweiler von Paule machte Radau wie jeden Abend. Und Frau Osterloh übte Geige. Alles wie immer.

Franzi wunderte sich, dass die Erde sich weiterdrehte und sich nicht darum kümmerte, dass die wichtigsten Menschen in ihrem Leben tot waren. Erst Mama und Papa. Und jetzt Omi.

„Das ist der schrecklichste Traum überhaupt. Ich will aufwachen. Sofort!“

Mario schaute sie nur traurig an. Dann fiel ihr etwas ein. Sie versuchte einen Trick, den sie lange nicht benutzt hatte. Sie riss die Augen auf, soweit sie konnte und so lange wie möglich. Manchmal dauerte es ein paar Sekunden, aber immer war sie irgendwann aufgewacht und hatte auf die Decke ihres Kinderzimmers geblickt. Sie freute sich bereits auf die Erleichterung, die sie dann durchfluten würde.

Aber die kam nicht. Franzi starrte weiter mit geweiteten Augen ins Zimmer.

Nichts passierte.

„Was ist mit dir?“ Ihr Bruder klang ernsthaft besorgt.

In ihre aufgerissenen Augen traten Tränen. 

Es war alles echt. Kein Traum.