Rannoch Moor (aus "Unbehagliche Geschichten")

 

Fünf Geschichten über seelische Abgründe und mysteriöse Ereignisse

 

Viehtreiber, Diebe und andere Gestalten zogen bis vor wenigen Jahrzehnten durch das Rannoch Moor. Wagenräder brachen und Männer reparierten sie mit schwieligen Händen. Es wur­de geflucht und das Vieh weiter getrieben. Über allem waberte der Geruch des Moores und der Gestank ungewaschener Körper. Die Männer folgten dem tückischen Weg, durchzogen von Sümpfen, Wasserläufen und Seen, eingeschlossen von einem Bergmassiv. Manchmal schlossen sie Wetten ab, wer das Inveroran Hotel als erster ausmachen konnte. Aber meistens schwiegen sie verbissen. Kam das Hotel in Sicht, drängten sie vorwärts, die letzten Kräfte mobilisierend. Kaum war das Vieh untergebracht, floss Whisky durch ausgetrocknete Kehlen, duftete gebratener Speck, und am Kaminfeuer wärmten sich kalte Knochen.

Das Inveroran Hotel gibt es immer noch. Heute dient es erschöpften Wanderern als Zuflucht in der unbewohnten Landschaft. Cora hatte davon gelesen und war gespannt darauf. Der Weg war steil und voller Geröll. Windböen klatschten Cora und ihrer Freundin den Regen ins Gesicht, lief in Bächen an ihnen hinunter, suchte hartnäckig einen Weg durch undichte Reißverschlüsse. Denise war auf dem Geröll ausgerutscht und hatte sich den Kopf angeschlagen. Mit gesenktem Kopf vor sich hin schimpfend betastete sie die Beule. Cora hatte sich Blasen gelaufen und ihr langer Rücken schmerzte. Endlich sah sie durch den Regenschleier einen hellen Fleck unter ihnen, der das Hotel sein könnte. Statt Erleichterung mischte sich ein ungutes Gefühl in den Regen und lief ihr in den Nacken. 

In mürrischem Schweigen erreichten sie das Inveroran Hotel. Es stand mitten in der Einöde, umgeben von ein paar Nebengebäuden, zwischen denen zahme Rehe herumliefen. Die Straße hinunter stand ein einsames Cottage. Unter dem Vordach pflanzte eine alte Frau mit grauem Zopf rote Geranien. Eine Madonna aus Stein sah ihr dabei zu.

Die Eingangstür war niedrig, Cora musste den Kopf einziehen. Im Flur standen Plastikunterla­gen mit matschigen Wanderschuhen. Sie ließ den Rucksack von ihren Schultern gleiten und bückte sich mühsam zu den Schnürsenkeln. Jeder Knochen tat weh. Denise brauchte ein wenig länger, deshalb suchte Cora allein die Rezeption. Das Hotel war ein Labyrinth aus engen Gängen mit Teppichen, die alle Geräusche verschluck­ten und heruntertropfendes Regenwasser aufsogen. An der Rezeption war keine Menschensee­le, nur ein geschnitzter Hirsch folgte ihr mit seinem Blick. Unbehagen flackerte in ihr auf, was für ein seltsamer Ort.

Aus einer angelehnten Tür drang ein Rhythmus aus Fingerschnipsen und Pfeiftönen. Ein schlak­siger Mann mit Rastazöpfen kam heraus und der Rhythmus verstummte. Er schimpfte über das Wetter und schob Formulare über den Tisch. Außerdem erklärte er, wann es Abendessen gäbe und einiges mehr, was Cora nicht verstand, weil sie sich darauf konzentrierte, mit kältestarren Fingern die Formulare auszufüllen. Ihre Freundin kam dazu und half ihr. Mit wippendem Gang ging der junge Mann voraus und zeigte ihnen ihr Zimmer im ersten Stock. Mittendrin standen ein Ohrensessel und eine Stehlampe mit besticktem Schirm. Denise plumpste erschöpft hinein. Der Mann ließ sie allein.

Kaum schloss sich die Tür hinter ihm, setzte wieder rhythmisches Fin­gerschnipsen ein, das sich langsam entfernte. „Begabter Typ, hat Musik im Blut“, meinte Denise. Cora nannte ihn insgeheim bereits A capella.

Die feuchte Kleidung klebte auf ihrer Haut, mühsam zogen sich die Freundinnen aus und krochen mit tro­ckenen Sachen in die Betten, um sich aufzuwärmen.

„Mist, ich habe die Blasenpflaster im letzten Hotel liegen gelassen“, fiel Cora ein.

Obwohl auf ihren Fußsohlen kleine Teufelchen tanzten, fielen ihr die Augen zu. Beim Einschlafen zogen verschlammte Wege und ein endloser grauer Himmel an ihrem inneren Auge vorbei. Nach dem Nickerchen stolperte sie mit schmerzenden Füßen unter die Dusche, bemüht, leise zu sein, um Denise nicht zu wecken. Das Wasser wurde schnell warm, aber der Hand­lauf erwies sich als instabil. Cora riss ihn aus der Wand, polternd fiel das Ding auf die Fliesen.

„Randalierst du da drinnen?“

„Nicht nötig, das Hotel fällt von ganz allein ausei­n­­ander.“ 

Da Denise jetzt ohnehin wach war, scheuchte sie ihre Freundin ebenfalls unter die Dusche. Danach tat sich die Kleider­frage auf.

„Was ziehen wir zum Dinner an?“

Betrübt blickten sie auf die Outdoor- und Regen­sachen, die feucht und schmutzig über allen verfügbaren Möbelstücken hingen. Denise verpackte ihr ausladendes Hinterteil in eine nicht mehr ganz saubere Jeans. Trockene Strümpfe waren ebenfalls aus. Cora fand ein sauberes Shirt in ihrer Lieblingsfarbe Knallbunt. Sie gingen hinunter zum Abendessen. Die Tür zum Speise­raum stand leider offen, und ein paar Mitwanderer blickten ihnen entgegen. Sie bemühten sich, würdevoll die Treppe hinunterzugehen. Cora, groß und hager, in Regenbo­genfarben gehüllt, ging fast normal, trotz des Kleinkriegs unter ihren Fußsohlen. Aber Denise stolperte über eine Teppichfalte. Schwungvoll und vom Gelächter des Publikums begleitet, erreichten sie den Speiseraum.

Bei Hühnchen in Weinsoße stellten sich die Tisch­nachbarn als Glücksfall heraus. Sie hatten Blasenpflaster dabei. Cora atmete auf und die Teufelchen unter ihren Fußsohlen hielten ent­täuscht inne. 

Nachdem sie ihre Füße versorgt hatte, gingen die Freundinnen in die hauseigene Walkers Bar. Sie war klein und überfüllt. Die Einrichtung war mit gutem Willen als antik zu bezeichnen und aus den Barhockern quoll der Schaumstoff. Cora fühlte sich auf Anhieb wohl.

Jetzt stand A capella hinter der Theke und zapfte Bier, seine Rastazöpfe schwangen hin und her. Eine alte Dame füllte klirrend Eis in ein Glas, Cora erkannte sie sofort wieder. Über ihren Rücken fiel ein grauer geflochtener Zopf. Coras Blick blieb an einem Mann hängen, der teilnahmslos in der Menge saß. Er war um die vierzig und sah ausgesprochen gut aus. Aber sein Gesicht wirkte wie versteinert. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, seiner war so abweisend, dass sie zurück­prallte. Etwas Un­angenehmes kroch in ihren Nacken.