Die Maske (aus "Unbehagliche Geschichten")

 

Fünf Geschichten über seelische Abgründe und mysteriöse Ereignisse

Warum ich im Sommer Handschuhe trage? Nein, ich bin keine extravagante alte Frau mit Modetick. Die Leute können das gern glauben, dann lassen sie mich wenigstens in Ruhe. Wie bitte? Der wahre Grund würde Ihnen nicht gefallen. Lieber Himmel, Sie sind wirklich hartnäckig. Also gut, ich erzähle es Ihnen. Dazu muss ich alte Erinnerungen hervorholen. Aber ich habe Sie gewarnt.

Es wird Ihnen nicht gefallen.

Salzig. Total salzig. Das war meine erste Erinnerung an die Ferien bei Tante Amanda. Später kamen andere dazu. Jahrzehnte habe ich versucht, sie aus meinem Gedächtnis zu löschen, vergeblich. Scharfkantig schaben sie noch heute am Rand meines Verstandes entlang.

Sommerferien - lange Zeit hatte das Wort für uns Schwestern die Bedeutung von Abenteuer und gleichzeitiger Geborgenheit in Tante Amandas altem Häuschen in Irland. Sie wohnte in einem einsamen Ort an der Westküste, wo sich die Wellen mit wütender Gewalt an den Felsen brachen. Es gab nur eine Handvoll Häuser, wie von einem Riesen über grüne Hügel verstreut.

Die salzige Luft überrumpelte mich jedes Jahr aufs Neue und drang mir unternehmungslustig in die Nase. Immer war sie da, drang durch alle Ritzen. Würzig, aufregend, manchmal auch stechend und beißend. Wenn Amanda uns vom Flughafen abholte, wunderten wir uns immer, dass wir alle ins Auto passten. Gepäckstücke rutschten auf unseren Knien hin und her. Der Linksverkehr machte Mama immer nervös. Jedesmal schrie sie auf, wenn Amanda schwungvoll nach links in einen Kreisel fuhr. Es war jedes Jahr das gleiche, und wir amüsierten uns immer wieder über diesen fröhlichen Auftakt für die kommenden drei Wochen.

Tanta Amanda war Papas Schwester und viel älter als er. Sie war Witwe und lebte allein, daher freute sie sich immer unglaublich, wenn wir kamen. Naja, ganz allein war sie nicht, da war dieser irische Wolfshund, den wir Schwestern liebten. Einen Hundekorb gab es nicht, am liebsten saß er in dem breiten Ledersessel, beinahe wie ein Mensch. Der Hund hieß Bruno, war riesengroß und gutmütig, außerdem liebte er Kekse.

Wir waren ungefähr zehn Jahre alt, und Irland empfing uns wieder einmal mit einem milden Sommer­­regen. Bruno sprang an uns hoch und schüttelte sein nasses Fell. Rieke, meine Zwillingsschwester, stürzte sich auf ihn und lief Papa dabei vor die Nase. Sein Ausweich­manöver ging schief, er landete in einer Pfütze. „Könnt ihr nicht aufpassen? Die Hose ist ruiniert.“

„Du hast hoffentlich genug Kleidung mit, Bruderherz“, lachte Amanda. Sie hatte zwar eine Wasch­maschine, aber der Strom fiel oft aus. Ich sah Papa bereits seine Hose mit der Hand waschen. Rieke und ich blickten uns an und kicherten. Wir drückten uns vor dem Ausladen des Gepäcks und verschwanden in unser Dachzimmer. Als erstes erneuerten wir unsere magischen Kreise. Mama hatte vor ein paar Tagen wieder versucht, sie zu entfernen, mit einer stinkenden Seife, danach hatte die Haut gebrannt wie Feuer. Auf unseren Unterarmen erneuerten wir ständig einen Kreis mit
unseren Initialen. Mit wasserfestem Stift, das gefiel Mama überhaupt nicht. Verblasst und traurig schimmerten die kümmerlichen Überreste auf unseren dünnen Armen. Sorgfältig und feierlich malten wir die Kreise nach. Wir glauben fest daran, dass Zwillinge eine besondere Kraft haben, ein unzerstörbares Band, unsichtbar und magisch. Als die Zeichen wieder auf unseren blassen Armen leuchteten, waren wir zufrieden und gingen nach unten.

In diesem Sommer hing das erste Mal die Maske an der Wand, direkt über dem Sessel, in dem sich Bruno so gern lümmelte. Schwarzes Holz, auf dem weiße, ineinander verschlungene Zeichnungen leuchteten, ihre Augen waren geschlossen. Sie war wunderschön.

„Wow.“ Rieke berührte das neue Stück andächtig.

„Ach ja, die Maske“, schnaufte Tante Amanda, als sie einen Stapel Holz hereinschleppte. „Die habe ich von Johnny, meinem Nachbarn. Ihr kennt ihn ja.“

Sie ließ den Holzstapel neben den Kamin fallen und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Hände waren rau vom Holz­hacken und der Gartenarbeit. Um ihre Augenwinkel hatte sich bereits ein Netz aus Fältchen gegraben. Als sie von Johnny sprach, leuchteten ihre Augen. Uns wurde sofort klar, dass es zwischen den beiden gefunkt hatte. Endlich. Wir mochten diesen großen Kerl mit den tollen Geschichten.

„Er kommt übrigens heute Abend und kocht für uns.“ Verträumt betrachtete sie die Holzmaske und schien in Gedanken bei Johnny zu sein. Wir grinsten schweigend. Schließlich räusperte ich mich. „Nachbar ist gut. Er wohnt mindestens eine Meile entfernt.“

„Ja“, lachte sie, „aber es ist das nächste Haus.“

Am Abend hatte Tante Amanda Feuer im Kamin gemacht. Glücklich und mit glühenden Wangen saßen wir Schwestern davor. Es war toll, wieder bei unserer verrückten ­Tante zu sein.

Als Johnny kam, begrüßten wir ihn stürmisch. Er überragte uns Zehnjährige um einiges, selbst die Erwachsenen wirkten neben ihm winzig. Amanda stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund, er drückte sie an sich. Wir kicherten.

„Was kochst du?“ fragte Tanta Amanda und gab uns im Vorbeigehen angedeutete Nackenschläge.

„Irish Stew“, antwortete Johnny und brachte den schweren Einkaufskorb in die Küche. Mit geübten Bewegungen machte er sich daran, Kartoffeln und Zwiebeln zu schneiden. Unsere Tante lehnte im Türrahmen. Auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte. „Oh nein. Irish Stew.“

„Aber Amanda, Irish Stew ist wunderbar“, warf Mama ein.

„Es dauert schrecklich lange. Bis dahin bin ich verhungert.“

Unsere Tante hatte immer Hunger, müssen Sie wissen. Ständig steckte sie sich etwas zu Essen in den Mund. Aber ja, nehmen Sie sich ruhig einen von den Keksen. Ich bekomme nicht oft Besuch. Wo war ich stehengeblieben?

Ihr Garten quoll über von Himbeeren und Johannisbeeren. „Damit ich auch mal was Gesundes esse“, meinte sie immer.

„Wenn du so viel Zucker darüber streust, bringt das nicht viel“, hatte mein Vater eingeworfen, aber Amanda hatte nur abgewunken.

Dauernd aß sie Fertiggerichte, weil sie keine Lust auf Kochen hatte. Diese Aufgabe übernahm Johnny gern. Bald duftete es im Häuschen nach Zwiebeln und Kräutern. Rieke und ich halfen beim Karotten schneiden, zu Hause haben wir das nie freiwillig getan. Aber mit Johnny machte es richtig Spaß. Vor seiner Pensionierung war er Erdkundelehrer gewesen und hatte die Welt bereist. Wenn er von fremden Ländern erzählte, wurde es richtig spannend. Er sprach gut Deutsch und wir mochten seinen Akzent. Rieke und ich hörten ihm gern zu. 

Das Gericht schmorte vor sich hin und wir versammelten uns in der Wohnstube. Es war kühler geworden. Tante Amanda legte Holz nach und angenehme Wärme durchströmte den Raum. Für unsere knurrenden Mägen stellte sie eine Schale Himbeeren und ein paar Nüsse auf den Tisch. Wir vertrieben uns die Zeit mit Kartenspielen. Papa mogelte, Mama regte sich darüber auf und Rieke und ich nippten am Bier von Tante Amanda, die so tat, als bemerkte sie es nicht. Es schmeckte ekelhaft und wir schüttelten uns. Wer konnte dieses Gebräu freiwillig trinken?

Im flackernden Licht wirkte die Maske unheimlich. Bruno lag im Sessel darunter und grunzte im Schlaf. Sein linkes Ohr zuckte. Ich wollte mich gerade wieder dem Karten­spiel zuwenden, da geschah etwas Seltsames.